
Amifampridin, in der Wissenschaft als 3,4-Diaminopyridin bekannt, ist ein Wirkstoff, der primär zur Behandlung des seltenen Lambert-Eaton-Myasthenie-Syndroms (LEMS) eingesetzt wird. Jüngste Untersuchungen legen jedoch nahe, dass dieser Kaliumkanalblocker auch Potenzial zur Behandlung von Symptomen im Zusammenhang mit dem Post-COVID-Syndrom und der Myalgischen Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) haben könnte. Dieser Artikel beleuchtet die biochemische Wirkweise von Amifampridin, seine derzeitigen Einsatzgebiete und die mögliche Rolle bei der Therapie von Post-COVID-Syndrom und ME/CFS.
Was ist das Lambert-Eaton-Myasthenie-Syndrom (LEMS)?
Das Lambert-Eaton-Myasthenie-Syndrom (LEMS) ist eine seltene Autoimmunerkrankung, bei der Antikörper gegen spannungsabhängige Kalziumkanäle an den präsynaptischen Nervenendigungen gebildet werden. Diese Antikörper hemmen die Freisetzung von Acetylcholin, einem essenziellen Neurotransmitter, der für die Signalübertragung zwischen Nerv und Muskel verantwortlich ist. Die Folge ist eine gestörte neuromuskuläre Übertragung, die sich vor allem durch Muskelschwäche, insbesondere in der proximalen Muskulatur wie den Schultern und Oberschenkeln, bemerkbar macht.
Die Symptome von LEMS beschränken sich jedoch nicht ausschließlich auf das periphere Nervensystem. Die verminderte Verfügbarkeit von Acetylcholin kann auch das zentrale Nervensystem beeinflussen, was zu mentaler Erschöpfung, Konzentrationsproblemen und kognitiven Beeinträchtigungen führen kann. Darüber hinaus hat LEMS Auswirkungen auf das autonome Nervensystem, das eine zentrale Rolle bei der Regulierung lebenswichtiger Funktionen spielt. Patienten berichten häufig von Symptomen wie Hypotonie, trockenen Schleimhäuten, veränderter Schweißsekretion und gastrointestinalen Beschwerden wie Verstopfung. Dies ist darauf zurückzuführen, dass das autonome und enterische Nervensystem ebenfalls auf eine ausreichende Acetylcholin-Freisetzung angewiesen sind, um ihre Funktionen aufrechtzuerhalten.
Wie wirkt Amifampridin?
Amifampridin entfaltet seine Wirkung durch die selektive Blockade spannungsabhängiger Kaliumkanäle (Voltage-Gated Potassium Channels, VGKC) an präsynaptischen Nervenendigungen. Diese Kanäle spielen eine Schlüsselrolle bei der Repolarisation der Zellmembran nach einem Aktionspotenzial. Durch die Hemmung dieser Kanäle verzögert Amifampridin die Repolarisation der präsynaptischen Membran und verlängert die Depolarisationsphase.
Die verlängerte Depolarisation führt zu einem verstärkten Kalziumeinstrom durch spannungsabhängige Kalziumkanäle (Voltage-Gated Calcium Channels, VGCC). Kalzium ist ein entscheidender Mediator für die Exozytose von Neurotransmittern. Der erhöhte intrazelluläre Kalziumspiegel fördert die Freisetzung von Acetylcholin aus synaptischen Vesikeln in den synaptischen Spalt. Acetylcholin bindet anschließend an Rezeptoren der postsynaptischen Membran, was die neuromuskuläre Übertragung verbessert.
Zusätzlich wird vermutet, dass Amifampridin durch seine Wirkung auf die Kaliumkanäle auch die neuronale Erregbarkeit beeinflusst. Dies könnte erklären, warum das Medikament potenziell auch bei Erkrankungen eingesetzt werden kann, die durch eine Störung der neuromuskulären Funktion oder eine Dysregulation des Nervensystems gekennzeichnet sind.
Amifampridin wird hauptsächlich zur Behandlung von LEMS eingesetzt. Diese seltene Autoimmunerkrankung beeinträchtigt die neuromuskuläre Übertragung und führt zu Muskelschwäche. Der Wirkstoff wird auch Off-Label bei präsynaptisch bedingten angeborenen Myasthenie-Syndromen, Multiple Sklerose und sogar bei Botulismus verwendet. Bei all diesen Erkrankungen soll die erhöhte Verfügbarkeit von Acetylcholin die Beschwerden, die durch Auto Antikörper ausgelöst werden, vermindert werden.
Potenzial bei ME/CFS und Long-COVID
Die Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) und Long-COVID sind multisystemische Erkrankungen, die weitreichende Auswirkungen auf verschiedene Bereiche des Nervensystems haben. Neben einer mitochondrialen Dysfunktion und gestörten neuromuskulären Übertragung spielen Autoantikörper gegen spezifische Rezeptoren wie Acetylcholinrezeptoren (AChR), muskarinische Rezeptoren (M1-M5) und G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCRs) eine zentrale Rolle. Diese Antikörper können die Signalübertragung beeinträchtigen und sowohl das autonome als auch das zentrale und enterische Nervensystem betreffen.
Autonomes Nervensystem: ME/CFS und Long-COVID sind oft mit Dysfunktionen des autonomen Nervensystems verbunden, wie beispielsweise posturaler orthostatischer Tachykardie (PoTS), orthostatischer Hypotonie und gestörter Thermoregulation. Amifampridin könnte durch die Verstärkung der Acetylcholinfreisetzung die präganglionäre Signalübertragung verbessern. Dies wäre besonders relevant im Parasympathikus, um die Regulation der Herzfrequenz und Verdauungsprozesse zu unterstützen, und im Sympathikus, um die Balance des autonomen Nervensystems wiederherzustellen.
Zentrales Nervensystem: Autoantikörper gegen Acetylcholin- und GPCR-Rezeptoren können auch das zentrale Nervensystem betreffen und zu kognitiven Symptomen wie Brain Fog, Konzentrationsstörungen und mentaler Erschöpfung führen. Durch die Modulation der neuronalen Erregbarkeit und die Optimierung der synaptischen Signalübertragung könnte Amifampridin helfen, zentrale Symptome zu lindern. Eine verbesserte cholinerge Aktivität könnte die Aufmerksamkeit und die kognitive Leistungsfähigkeit steigern.
Enterisches Nervensystem:
ME/CFS- und Long-COVID-Patient:innen berichten häufig über gastrointestinale Beschwerden wie Verstopfung, Völlegefühl und veränderte Darmbewegungen. Diese Symptome stehen oft in Verbindung mit einer Dysregulation des enterischen Nervensystems, das stark von der cholinergen Signalübertragung abhängt. Amifampridin könnte durch eine verbesserte Acetylcholinfreisetzung die Motilität des Darms und die Sekretion von Verdauungsenzymen fördern und somit gastrointestinale Symptome lindern.
Es ist zu beachten, dass höchstwahrscheinlich nur eine spezifische Untergruppe von Long-COVID- und ME/CFS-Betroffenen von der Therapie mit Amifampridin profitieren könnte. Insbesondere scheinen Patient:innen mit einer hohen Anzahl von Autoantikörpern – insbesondere gegen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCR) und muskarinische Acetylcholinrezeptoren – potenziell geeignet zu sein. Darüber hinaus könnten Patient:innen mit ausgeprägter Muskelschwäche sowie autonomen Dysfunktionen wie bei Posturaler Orthostatischer Tachykardie (PoTS) besonders von der Behandlung profitieren.

Wie ist die Studienlage zu Amifampridin und Long COVID beziehungsweise ME/CFS?
Die Studienlage zu Amifampridin bei Long-COVID ist derzeit sehr begrenzt.
Einzelfallberichte und kleine Studien:
Die Fallserie von Boehmeke et al. (2024) ist eine der wenigen Studien, die den Einsatz von Amifampridin bei Long-COVID untersuchen. Die Hauptmerkmale und Ergebnisse der Studie sind wie folgt:
Studienaufbau
Teilnehmer:innen: Fünf Patient:innen mit diagnostiziertem Post-COVID-Syndrom. Die Patient:innen litten an schwerer Fatigue und einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität.
Design: Off-Label-Anwendung von Amifampridin im Rahmen einer retrospektiven Fallserie. Zusätzlich wurden bei zwei Patient:innen doppelblinde Absetzstudien durchgeführt, um die Effekte des Medikaments zu überprüfen.
Dosierung: Amifampridin wurde individuell dosiert, abhängig von der Verträglichkeit und dem klinischen Verlauf.
Dauer der Behandlung: Nicht näher spezifiziert, jedoch ausreichend für die Bewertung signifikanter Veränderungen in den Symptomen.
Ergebnisse
Verbesserung der Fatigue-Symptome: Der Bell-Score stieg bei allen fünf Patient:innen von einem Ausgangswert von durchschnittlich 28 auf 82 nach der Behandlung. Dies entspricht einer deutlichen Verbesserung der Energielevel und der Funktionsfähigkeit im Alltag.
Normalisierung des Schlafbedarfs: Vor der Behandlung benötigten die Patient:innen bis zu 16 Stunden Schlaf pro Tag. Nach der Behandlung reduzierte sich der Schlafbedarf auf ein normales Niveau von 7–9 Stunden täglich.
Doppelblind-Absetzstudie: Bei zwei Patient:innen wurde das Medikament doppelblind abgesetzt. Nach dem Absetzen verschlechterten sich die Symptome erheblich. Nach der erneuten Gabe von Amifampridin verbesserten sich die Symptome wieder deutlich, was die spezifische Wirkung des Medikaments unterstützt.
Stärken und Limitierungen der Studie
Stärken: Objektive Verbesserung der Symptome durch den Bell-Score messbar. Doppelblind-Absetzstudien untermauern die spezifische Wirkung von Amifampridin.
Limitierungen: Kleine Fallserie ohne Kontrollgruppe, daher keine Generalisierbarkeit der Ergebnisse. Retrospektives Design mit potenziellen Biasquellen. Keine langfristige Beobachtung, um die Nachhaltigkeit der Effekte zu bewerten.
Indirekte Hinweise durch ähnliche Wirkstoffe:
Fampridin-Studien: Fampridin, ein ähnlicher Kaliumkanalblocker, wurde in einer Schweizer Studie bei Long-COVID-Patient:innen mit kognitiven Symptomen getestet. Die Studie wurde jedoch vorzeitig abgebrochen, da nicht genug Patienten rekrutiert werden konnten, sodass keine belastbaren Ergebnisse vorliegen
Theoretische Grundlage: Amifampridin hat einen etablierten Wirkmechanismus, der über die Verstärkung der Acetylcholinfreisetzung zur Verbesserung der neuromuskulären Funktion führen kann. Dies könnte auch bei Long-COVID-Symptomen wie Fatigue, Muskelschwäche und Dysautonomie wirksam sein.
Was sind Risiken und finanzielle Aspekte der Einnahme?
Wie bei jedem Medikament gibt es auch bei Amifampridin potenzielle Risiken und Nebenwirkungen. Zu den häufigsten gehören zentralnervöse Symptome wie Nervosität, Schwindel, Kopfschmerzen und Kribbelparästhesien. Darüber hinaus treten oft Magen-Darm-Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen und Durchfall auf. Muskel- und Nervensymptome wie Zittern, Muskelkrämpfe und gelegentlich ein Schwächegefühl sind ebenfalls möglich. Selten kann es, insbesondere bei hohen Dosierungen oder prädisponierten Patient:innen, zu Anfällen kommen. Daher ist besondere Vorsicht bei Personen mit Epilepsie, Herzrhythmusstörungen oder anderen neurologischen Erkrankungen geboten.
Die Kosten für Amifampridin sind hoch, da das Medikament in erster Linie für eine seltene Erkrankung wie LEMS zugelassen ist. Die monatlichen Kosten liegen je nach Dosierung zwischen 4.000 und 8.000 Euro. Bei Off-Label-Anwendungen, wie sie bei Long-COVID oder ME/CFS in Betracht gezogen werden, müssen Patient:innen die Kosten in der Regel selbst tragen, es sei denn, die Krankenkasse übernimmt diese im Einzelfall. Der Zugang zu Amifampridin erfolgt in Deutschland unter dem Handelsnamen Firdapse®, und die Anwendung bei Off-Label-Indikationen erfordert eine besondere Begründung durch die behandelnde Ärzt:in.
Fazit:
Amifampridin, ein Kaliumkanalblocker, zeigt aufgrund seines Wirkmechanismus Potenzial zur Behandlung von Symptomen bei Long-COVID und Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Ursprünglich für das Lambert-Eaton-Myasthenie-Syndrom (LEMS) zugelassen, verbessert es die neuromuskuläre Übertragung durch die Förderung der Acetylcholinfreisetzung. Diese Wirkung könnte insbesondere bei Symptomen wie Fatigue, Muskelschwäche und Dysfunktionen im autonomen, zentralen und enterischen Nervensystem hilfreich sein.
Erste Fallserien, wie die von Boehmeke et al. (2024), deuten auf eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität durch Amifampridin hin, insbesondere durch die Steigerung des Energielevels und die Normalisierung des Schlafbedarfs. Die Ergebnisse sind jedoch limitiert durch die geringe Teilnehmerzahl und das Fehlen von Kontrollgruppen. Studien mit Fampridin, einem ähnlichen Wirkstoff, konnten bisher keine ausreichenden Daten liefern, um das Potenzial dieser Substanzen bei Long-COVID umfassend zu bestätigen.
Die Anwendung von Amifampridin bleibt aufgrund der hohen Kosten, die in der Regel von den Patient:innen selbst getragen werden müssen, und der möglichen Nebenwirkungen eine Herausforderung. Zu den häufigen Nebenwirkungen zählen Schwindel, Kopfschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden und Muskelkrämpfe. Seltene, aber schwerwiegende Risiken wie Anfälle erfordern eine engmaschige ärztliche Überwachung.
Trotz der Herausforderungen bietet Amifampridin eine theoretische Grundlage, um multisystemische Symptome von Long-COVID und ME/CFS anzugehen. Es bedarf jedoch dringend groß angelegter, randomisierter klinischer Studien, um die Wirksamkeit, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit dieser Therapieoption zu bestätigen. Nur durch fundierte Forschung kann das volle Potenzial von Amifampridin bei diesen komplexen Erkrankungen ausgeschöpft werden.
Verschuuren, J. J., Wirtz, P. W., Titulaer, M. J., Willems, L. N., & van Gerven, J. (2006). Available treatment options for the management of Lambert-Eaton myasthenic syndrome. Expert Opinion on Pharmacotherapy, 7(10), 1323–1336. https://doi.org/10.1517/14656566.7.10.1323
Boehmeke, T. (2024). Reduced Fatigue Symptoms in the Post-COVID Syndrome With Amifampridine: A Collective Casuistry With Double-Blind Discontinuation Trials. Cureus, 16(1), e52935.
Chee, Y. J., Fan, B. E., Young, B. E., Dalan, R., & Lye, D. C. (2023). Clinical trials on the pharmacological treatment of long COVID: A systematic review. Journal of Medical Virology, 95(1), e28289.
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