Neue Therapieansätze bei Long-COVID, ME/CFS und Post-Vac-Syndrom: LDN, LDA und Mestinon.
Die langanhaltenden Symptome von Long-COVID, Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) und dem Post-Vac-Syndrom stellen eine erhebliche Herausforderung für Betroffene und das medizinische System dar. Da bisherige Behandlungsansätze oft unzureichend sind, widmen sich Forscher und Mediziner verstärkt den potenziellen Einsatzmöglichkeiten von Low Dose Naltrexon (LDN), Low Dose Aripiprazol (LDA) und Mestinon (Pyridostigmin) im Off-Label-Use. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS empfiehlt diese Wirkstoffe als mögliche Therapieoptionen für ausgewählte Patientengruppen.
Off-Label Use: Behandlungsmöglichkeiten außerhalb der zugelassenen Indikationen
Der Begriff "Off-Label Use" bezeichnet die Anwendung eines Medikaments außerhalb der spezifischen Indikationen, für die es offiziell zugelassen ist. Diese Vorgehensweise kommt häufig zum Einsatz, wenn für bestimmte Erkrankungen, wie ME/CFS und Long-COVID, keine spezifischen Medikamente zugelassen sind. Ärztinnen und Ärzte können unter sorgfältiger Abwägung und individueller Risiko-Nutzen-Bewertung auf Off-Label-Anwendungen zurückgreifen, um Patientinnen und Patienten mögliche Therapieoptionen zu bieten, wenn man sonst mit dem Rücken zur Wand steht. Dies nennt man oft auch "individueller Heilversuch". Diese Nutzung erfordert jedoch eine besonders enge ärztliche Überwachung und Aufklärung, da es keine umfassenden Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit der Off-Label-Medikamente bei diesen Erkrankungen gibt. Das bedeutet aber nicht, dass per se die Medikamente gefährlich sind. Gerade im "low dose" also im niedrig-dosierten Bereich sind immer Studien zur Sicherheit das Medikament vorhanden, wenn auch im Rahmen anderer Erkrankungen.
Die Zulassung von Medikamenten ist ein aufwendiger Prozess, der umfangreiche klinische Studien und Beweise zur Sicherheit und Wirksamkeit eines Medikaments erfordert. Häufige Gründe, warum Medikamente nicht zugelassen werden, sind entweder unzureichende Daten zur Wirksamkeit in der spezifischen Indikation oder unklare Sicherheitsprofile bei langfristiger Anwendung. Zudem können hohe Entwicklungskosten und die geringe Aussicht auf wirtschaftliche Rentabilität dazu führen, dass Pharmaunternehmen die Zulassung nicht weiter verfolgen. Dies betrifft vor allem Medikamente für seltene oder komplexe Erkrankungen wie ME/CFS oder Long-COVID, bei denen die Patientengruppen "klein" und die Krankheitsmechanismen oft unzureichend erforscht sind. In solchen Fällen bleibt Patient:innen und Ärzt:innen oft nur der Off-Label Use als therapeutische Möglichkeit.
Low Dose Aripiprazol (LDA)
Aripiprazol, ursprünglich entwickelt als Antipsychotikum zur Behandlung von Schizophrenie und bipolarer Störung, zeigt in niedrigen Dosierungen (Low-Dose Aripiprazol, LDA) Potenzial für die Therapie von Long-COVID und ME/CFS. In dieser Dosierung entfaltet Aripiprazol seine Wirkung primär als partieller Agonist an Dopamin- und Serotoninrezeptoren, insbesondere an D2- und 5-HT1A-Rezeptoren. Diese partielle Agonistenwirkung erlaubt es dem Medikament, die Aktivität dieser Neurotransmittersysteme anzupassen. In Bereichen mit Überaktivität kann Aripiprazol die Signalübertragung hemmen, während es in unteraktiven Regionen stimulierend wirkt. Dieses Balancieren der Dopamin- und Serotoninaktivität kann helfen, die neuronale Überreizung zu reduzieren, was besonders bei Symptomen wie Reizempfindlichkeit, kognitiven Beeinträchtigungen und zentralnervöser Erschöpfung eine Rolle spielt.
Zusätzlich deuten Studien darauf hin, dass LDA entzündungshemmende Effekte im zentralen Nervensystem haben könnte. Diese Wirkungen scheinen über die Stabilisierung von Gliazellen und die Modulation neuroinflammatorischer Prozesse vermittelt zu werden. Gliazellen, die das Gehirn stützen und das neuronale Milieu regulieren, sind bei vielen neurologischen Erkrankungen an entzündlichen Prozessen beteiligt. Eine Stabilisierung dieser Zellen könnte neuroprotektive Effekte bieten und das neuronale Umfeld beruhigen, was für Patientinnen und Patienten mit Long-COVID und ME/CFS von besonderer Bedeutung ist, da bei diesen Erkrankungen häufig eine erhöhte neuroinflammatorische Aktivität festgestellt wird. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS empfiehlt daher eine engmaschige ärztliche Überwachung bei der Anwendung von LDA, um die Dosis sorgfältig anzupassen und potenzielle Nebenwirkungen zu minimieren.
Low Dose Naltrexon (LDN)
Low Dose Naltrexon (LDN), ein ursprünglich zur Behandlung von Suchterkrankungen bzw. zur Begleitung von Alkoholentzügen entwickeltes Medikament, zeigt in niedrigen Dosierungen vielversprechende immunmodulierende und entzündungshemmende Eigenschaften, die es zu einer potenziellen Therapieoption für Long-COVID und ME/CFS machen. In seiner niedrigen Dosierung blockiert LDN kurzzeitig die Opioidrezeptoren im Körper, was eine verstärkte Freisetzung von Endorphinen stimuliert. Diese gesteigerte Endorphinproduktion führt zu einer Modulation des Immunsystems, bei der entzündliche Prozesse herunterreguliert und die Immunfunktion stabilisiert werden.
LDN beeinflusst das Immunsystem auf mehrere Arten, die speziell für Patient:innen mit Long-COVID und ME/CFS relevant sind. Es wurde gezeigt, dass LDN die Produktion entzündungsfördernder Zytokine reduziert, die für die chronischen Entzündungsprozesse bei diesen Erkrankungen mitverantwortlich sein könnten. Diese entzündungshemmende Wirkung kann helfen, die Symptome zu lindern, die häufig durch eine Fehlregulation des Immunsystems verschärft werden, wie Müdigkeit, Muskel- und Gelenkschmerzen sowie neurokognitive Störungen.
Studien und klinische Berichte haben gezeigt, dass LDN bei einigen Patient
mit Long-COVID und ME/CFS zu einer Reduktion von Fatigue, Schmerz und kognitiven Symptomen beitragen kann. Trotz der positiven Berichte ist die Reaktion auf LDN individuell sehr unterschiedlich. Während einige Patientbereits nach wenigen Wochen eine Besserung der Symptome berichten, kann es bei anderen zu keiner oder nur minimaler Wirkung kommen.
Da LDN Off-Label verwendet wird und die Dosierung sowie die Anwendungsdauer stark variieren können, sollte eine Therapie mit LDN stets unter ärztlicher Aufsicht erfolgen. Eine engmaschige Begleitung ist notwendig, um die optimale Dosis zu bestimmen und mögliche Nebenwirkungen, wie leichte Kopfschmerzen, Schlafstörungen oder Magen-Darm-Beschwerden, zu überwachen und anzupassen.
Mestinon (Pyridostigmin)
Pyridostigmin, das unter dem Handelsnamen Mestinon bekannt ist, wird zur Behandlung der Myasthenia gravis eingesetzt, einer Autoimmunerkrankung, die zu einer Schwäche der willentlich gesteuerten Muskulatur führt. Mestinon wirkt, indem es das Enzym Acetylcholinesterase hemmt, das für den Abbau des Neurotransmitters Acetylcholin verantwortlich ist. Durch die Hemmung dieses Enzyms erhöht sich die Verfügbarkeit von Acetylcholin im synaptischen Spalt und an den neuromuskulären Endplatten, was die Muskelkontraktion und die neuromuskuläre Kommunikation verbessert. Diese Wirkung kann bei Erkrankungen wie Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) und Long-COVID, die häufig mit muskulärer Fatigue einhergehen, hilfreich sein, da sie die Muskelleistung und -ausdauer fördern könnte.
Pyridostigmin und PoTS: Ein weiteres Anwendungsgebiet von Pyridostigmin ist das Posturale orthostatische Tachykardiesyndrom (PoTS), bei dem Patientinnen und Patienten in der aufrechten Lage oft einen schnellen Herzfrequenzanstieg und Kreislaufbeschwerden erleben. Pyridostigmin hilft hier, indem es die neuromuskuläre Kommunikation verbessert sowie die Funktion des parasympathischen Nervensystems fördert und die Wirkung des Sympathikus, der oft bei PoTS überaktiv ist, ausgleicht. In Studien wurde gezeigt, dass Pyridostigmin bei PoTS-Patientinnen und Patienten die Herzfrequenz und den Blutdruck stabilisieren kann, was zur Verbesserung der Kreislaufstabilität und Symptomreduktion beiträgt.
Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS empfiehlt Mestinon als mögliche Therapieoption für ausgewählte Patientinnen und Patienten, insbesondere bei schwerer muskulärer Fatigue und orthostatischer Intoleranz. Dennoch betont die Gesellschaft die Notwendigkeit einer ärztlichen Überwachung und individuellen Dosisanpassung, da die Reaktionen auf Pyridostigmin unterschiedlich ausfallen können. Häufige Nebenwirkungen wie Übelkeit, Muskelkrämpfe und Magen-Darm-Beschwerden sollten sorgfältig überwacht werden, um die Verträglichkeit des Medikaments zu optimieren.
Fazit: Individualisierte Therapien für komplexe Krankheitsbilder
Die therapeutischen Ansätze mit LDN, LDA und Mestinon eröffnen vielversprechende Perspektiven für die Behandlung von Long-COVID, ME/CFS und dem Post-Vac-Syndrom. Dennoch ist es entscheidend, dass diese Therapien individuell und unter ärztlicher Aufsicht angepasst werden, da der Off-Label-Charakter eine besondere Überwachung erfordert. Jedes Medikament wirkt unterschiedlich und sollte unter Berücksichtigung der individuellen Pathophysiologie und spezifischen Symptomatik der Patientinnen und Patienten
eingesetzt werden. Kombinationstherapien mit ergänzenden ganzheitlichen Ansätzen sind notwendig, um eine nachhaltige Verbesserung zu erreichen. Da Langzeitwirkungen und Sicherheitsprofile dieser Medikamente noch nicht umfassend erforscht sind, ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Patient:innen und Ärzt:innen unerlässlich, um bestmögliche Behandlungsergebnisse sicherzustellen.
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