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AutorenbildDr. med. Kristina Schultheiß

Das Immunsystem bei Long-COVID und ME/CFS: Wie SARS-CoV-2 das Immunsystem aus dem Gleichgewicht bringt

Die komplexen Veränderungen im Immunsystem bei Long-COVID und ME/CFS– von erschöpfter Zellantwort bis hin zu überschießender Antikörperproduktion

Rote Blutkörperchen und weiße Blutkörperchen mit Antikörper

Das Immunsystem

Das Immunsystem lässt sich grob in zwei Hauptkomponenten unterteilen: das angeborene Immunsystem und das erworbene (adaptive) Immunsystem. Diese beiden Systeme arbeiten zusammen, um den Körper gegen Infektionen zu schützen, greifen aber auf unterschiedliche Strategien zurück.


  • Angeborenes Immunsystem: Das angeborene Immunsystem ist die erste Abwehrlinie und reagiert sehr schnell auf Eindringlinge. Es erkennt allgemeine Merkmale von Krankheitserregern, wie die Zellwände von Bakterien oder Oberflächenproteine von Viren. Zu den wichtigen Zellen des angeborenen Immunsystems gehören Makrophagen, NK-Zellen, Neutrophile Granulozyten und dendritische Zellen. Sie bekämpfen Krankheitserreger schnell, haben aber keine spezifische Erinnerung an sie und können sie bei einer erneuten Infektion nicht gezielt bekämpfen. Das angeborene Immunsystem setzt außerdem Entzündungsmediatoren und Zytokine frei, um die Immunantwort zu steuern und andere Immunzellen zu aktivieren.

  • Erworbenes Immunsystem: Das erworbene Immunsystem entwickelt sich langsam und reagiert spezifisch auf bestimmte Krankheitserreger. Es bildet gezielte Abwehrzellen, darunter T- und B-Zellen, die spezifisch für die Erregerstrukturen eines Virus oder Bakteriums sind. Einmal aktiviert, bildet das erworbene Immunsystem ein immunologisches Gedächtnis, das eine schnellere und stärkere Antwort bei erneuter Infektion ermöglicht. Die T-Zellen erkennen infizierte Zellen und zerstören sie gezielt, während die B-Zellen Antikörper produzieren, die das Virus neutralisieren.


Zytokine sind kleine Proteine, die als Botenstoffe zwischen Immunzellen fungieren und eine wichtige Rolle in der Kommunikation des Immunsystems spielen. Sie helfen dabei, die Art und Intensität der Immunantwort zu regulieren. Ein bekanntes Beispiel sind Interleukine (IL), die verschiedene Immunzellen aktivieren oder hemmen können. Tumor-Nekrose-Faktor (TNF-α) und Interferone (IFN) sind weitere wichtige Zytokine, die bei Virusinfektionen eine Rolle spielen. Sie sind ein entscheidender Bestandteil der angeborenen Abwehr und können bei einer Überaktivierung jedoch zu Gewebeschäden und chronischen Entzündungen führen, wie sie bei Long-COVID und ME/CFS beobachtet werden.


Zusammen sorgen Zytokine und Entzündungsmediatoren für die Koordination und Verstärkung der Immunantwort, um Krankheitserreger zu bekämpfen.


Angeborenes Immunsystem: Die erste Verteidigungslinie

Das angeborene Immunsystem reagiert als erstes auf Krankheitserreger und dient als schnelle, aber allgemeine Abwehr gegen Infektionen. Es ist sofort einsatzbereit und reagiert auf allgemeine Strukturen von Viren und anderen Erregern:


  • Makrophagen: Diese „Fresszellen“ sind die ersten, die auf fremde Eindringlinge reagieren. Sie umschließen und verdauen Krankheitserreger und setzen gleichzeitig Botenstoffe frei, die andere Immunzellen anlocken und den Körper alarmieren.

  • Neutrophile Granulozyten: Sie strömen rasch an den Infektionsort und setzen toxische Substanzen frei, um Erreger direkt zu zerstören. Neutrophile sind besonders bei bakteriellen Infektionen aktiv, haben aber auch eine unterstützende Rolle bei Virusinfektionen.

  • Natürliche Killerzellen (NK-Zellen): NK-Zellen erkennen virusinfizierte Zellen anhand von Stresssignalen, die diese aussenden, und zerstören sie direkt, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.

  • Dendritische Zellen: Dendritische Zellen nehmen Viruspartikel auf und verarbeiten diese, um das adaptive Immunsystem zu aktivieren. Sie fungieren als „Vermittler“ zwischen dem angeborenen und dem adaptiven Immunsystem, indem sie das Virus markieren und eine spezifische Abwehrreaktion anregen.


Adaptives Immunsystem: Die gezielte und langfristige Abwehr

Das adaptive Immunsystem entwickelt sich etwas langsamer, ist aber sehr spezifisch und bildet ein „Gedächtnis“ gegen das Virus, was bei einer erneuten Infektion eine schnelle Reaktion ermöglicht:


  • T-Zellen: Die T-Zellen erkennen die von den dendritischen Zellen präsentierten Virusantigene und werden gezielt gegen das Virus aktiv.

    • Killer-T-Zellen (zytotoxische T-Zellen) zerstören spezifisch infizierte Zellen.

    • Helfer-T-Zellen (TH1) aktivieren andere Immunzellen, koordinieren die Immunantwort und regen die B-Zellen zur Antikörperproduktion an.

  • B-Zellen: Die B-Zellen sind auf die Produktion von Antikörpern spezialisiert, die spezifisch an das Virus binden und es neutralisieren, sodass es keine weiteren Zellen infizieren kann. Die Antikörperproduktion wird von den Helfer-T-Zellen unterstützt und bleibt lange nach der Infektion im Körper, um eine erneute Infektion schneller zu bekämpfen.


Beispiel: Ablauf der Immunreaktion bei einer SARS-CoV-2-Infektion

  1. Frühe Reaktion (Stunden nach Infektion): Sobald SARS-CoV-2 in die Atemwege eindringt, erkennen Makrophagen und Neutrophile Granulozyten die Viruspartikel und beginnen, diese zu bekämpfen und abzubauen. NK-Zellen reagieren ebenfalls rasch und zerstören die ersten virusinfizierten Zellen. Gleichzeitig setzen die Makrophagen entzündungsfördernde Zytokine frei, um andere Immunzellen anzulocken.

  2. Antigenpräsentation (innerhalb von 1–3 Tagen) Dendritische Zellen nehmen Virusbestandteile auf und präsentieren die Antigene auf ihrer Oberfläche. Sie wandern dann in die Lymphknoten und informieren die T-Zellen über das Virus, wodurch das adaptive Immunsystem aktiviert wird.

  3. Aktivierung des adaptiven Immunsystems (ab Tag 3–7): In den Lymphknoten erkennen die T-Zellen die von den dendritischen Zellen präsentierten Virusantigene und beginnen, spezifisch gegen das Virus aktiv zu werden. Killer-T-Zellen greifen die infizierten Zellen an, während Helfer-T-Zellen die B-Zellen zur Antikörperproduktion anregen.

  4. Bildung von Antikörpern und Gedächtniszellen (ab Tag 7): Die B-Zellen produzieren spezifische Antikörper, die sich an die Viruspartikel heften und diese neutralisieren. Gleichzeitig entstehen Gedächtniszellen, die bei einer erneuten Infektion des Virus schneller und effizienter reagieren können.


Dieser Ablauf stellt normalerweise sicher, dass das Virus effektiv bekämpft wird. Doch bei SARS-CoV-2 kann diese fein abgestimmte Immunreaktion gestört werden, was bei Long-COVID und ME/CFS zu einer andauernden Dysregulation führt.


Störung der Immunantwort bei Long-COVID: Angeborenes und Adaptives Immunsystem im Ungleichgewicht

Bei Long-COVID kommt es zu einer Dysregulation sowohl des angeborenen als auch des adaptiven Immunsystems. Diese Störungen betreffen mehrere Zelltypen und führen zu einer unzureichenden Virusbekämpfung, einer chronischen Entzündung und oft zur Bildung von Autoantikörpern, die körpereigenes Gewebe angreifen.


Wie schafft das SARS-CoV-2?

SARS-CoV-2 bindet mit seinem Spike-Protein u.a. an den ACE2-Rezeptor, um in die Zelle zu gelangen. Obwohl ACE2 auf einigen Immunzellen wie Makrophagen, bestimmten T-Zellen und dendritischen Zellen nur in geringen Mengen vorkommt, kann SARS-CoV-2 diese Zellen dennoch infizieren oder zumindest direkt beeinflussen. Sobald SARS-CoV-2 in die Immunzelle gelangt, kann es die Zellprozesse stören und eine Virusvermehrung in Gang setzen. Dies führt oft zur Schädigung oder zum Zelltod, was die Immunzellen schwächt und eine Immunlücke schafft, die das Virus weiter ausnutzen kann.

ein neutrophiler Granulozyt in der Blutbahn
Angeborenes Immunsystem: Gestörte frühe Abwehr
  • Makrophagen und Neutrophile: Diese Zellen, die normalerweise sofort auf eine Virusinfektion reagieren, zeigen bei Long-COVID eine übermäßige und anhaltende Aktivierung. Sie setzen hohe Mengen entzündungsfördernder Zytokine und sogenannte Neutrophil Extracellular Traps (NETs) frei. NETs sind netzartige Strukturen, die aus DNA und Proteinen bestehen und von aktivierten Neutrophilen ausgeschieden werden, um Erreger abzufangen. Bei Long-COVID tragen persistierende NETs zu chronischen Entzündungen bei, die das Gewebe schädigen und die effektive Virusbekämpfung behindern. Eine solche NET-Persistenz wurde mit Lungenfibrose, Herz-Kreislauf-Anomalien und neurologischen Dysfunktionen und auch Mikrogerinnseln in Verbindung gebracht und erfordert weitere Forschung, um gezielte Therapieansätze zu entwickeln

  • Natürliche Killerzellen (NK-Zellen): NK-Zellen zeigen aber bei Long-COVID eine eingeschränkte Aktivität. Dies bedeutet, dass das Virus im Körper nicht effektiv eingedämmt wird und länger überlebt. Diese verminderte Aktivität der NK-Zellen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das Virus im Körper persistiert und das Immunsystem dauerhaft stimuliert.

  • Dendritische Zellen: Dendritische Zellen sind essenziell für die Übergabe von Virusinformationen an das adaptive Immunsystem, doch bei Long-COVID ist diese Funktion oft beeinträchtigt. Wenn die dendritischen Zellen das Virus nicht optimal verarbeiten und präsentieren, werden die T-Zellen des adaptiven Immunsystems nicht ausreichend aktiviert. Das führt zu einer unzureichenden Aktivierung des adaptiven Immunsystems und einer ineffizienten Virusabwehr.


Adaptives Immunsystem: Dysfunktionale spezifische Abwehr
  • T-Zellen: Die chronische Aktivierung durch SARS-CoV-2 kann die T-Zellen erschöpfen, insbesondere die Killer-T-Zellen und Helfer-T-Zellen. Erschöpfte Killer-T-Zellen sind nicht in der Lage, infizierte Zellen gezielt zu zerstören, was die Viruslast erhöht. Die geschwächten Helfer-T-Zellen können andere Immunzellen, wie B-Zellen, nicht optimal unterstützen, was die Balance im adaptiven Immunsystem weiter stört.

  • B-Zellen und überschießende Antikörperproduktion: Die ineffektive T-Zell-Aktivierung bei Long-COVID führt häufig zu einer Verschiebung hin zu einer humoralen Antwort, bei der B-Zellen vermehrt Antikörper produzieren. Diese überschießende Antikörperproduktion konzentriert sich oft nicht gezielt auf das Virus und kann zur Bildung von Autoantikörpern führen, die gesundes Gewebe angreifen. Diese Autoantikörper können eine Vielzahl von Symptomen und Entzündungsprozessen auslösen, die für Long-COVID und Autoimmunreaktionen typisch sind.


Zusammengefasst:

Zusammengefasst führt der direkte Angriff von SARS-CoV-2 auf Immunzellen zu einem Ungleichgewicht im Immunsystem. Die Störung des angeborenen Immunsystems (ineffektive, aber überaktive frühe Abwehr) und des adaptiven Immunsystems (erschöpfte T-Zellen und überschießende B-Zell-Antwort) bringt das Immunsystem bei Long-COVID aus der Balance. Die Dysfunktion der NK-Zellen und T-Zellen schwächt die zelluläre Abwehr, während die überaktive B-Zell-Antwort durch die Zytokinausschüttung und chronische Entzündungen begünstigt. Einerseits wird das Virus nicht effektiv bekämpft und kann im Körper persistieren. Andererseits fördert die verstärkte Zytokinausschüttung einen chronischen Entzündungszustand, der zu anhaltender Immunaktivität, Gewebeschäden, reaktivierte Viren und opportunistische Infektionen und Autoimmunreaktionen führt.


Was ist mit ME/CFS?

Studien zeigen, dass bei ME/CFS eine vergleichbare Immunfehlregulation wie bei Long-COVID auftritt: eine Dysfunktion der NK-Zellen und T-Zellen führt zu einer schwachen zellulären Abwehr, während eine überschießende B-Zell-Antwort Autoantikörper und chronische Entzündungen begünstigt, was zu anhaltender Entzündung führt. Diese Mechanismen wurden in einer Übersicht zu ME/CFS bestätigt.


Diagnose und Therapieansätze bei Long-COVID und ME/CFS

Die Immunveränderungen bei Long-COVID und ME/CFS lassen sich mittlerweile auch im Labor nachweisen. So kann die Funktionalität der zellulären Abwehr beispielsweise durch die Aktivität der NK-Zellen und T-Zellen gemessen werden. Ein Th1/Th2-Shift lässt sich ebenfalls bestimmen und gibt Aufschluss darüber, ob die Immunantwort mehr zellulär oder humoraldominiert ist. Auch die Konzentration von Zytokinen (s.o.) lässt sich analysieren und gibt Hinweise auf eine übermäßige humorale Abwehr. Viruspersistenzen, reaktivierte Viren oder opportunistische Infektion können mittels Serologie oder auch Lymphozytentransformationstests (LTT) aufgedeckt werden. Ein freies vorhandenes Spikeprotein kann untersucht werden. Zudem kann das Vorhandensein von GPCR-Autoantikörpern untersucht werden, um mögliche Autoimmunreaktionen zu identifizieren. Dies ist jedoch nur eine Auswahl an Diagnostika.

Ein Zettel mit Both your Immunsystem da rum. Paprika, Limetten, Ingwer, Grapefruit, Honig, Brokkoli, Zitrusfrüchte, Knoblauch, Zwiebeln, Kurumi

Unspezifische Therapien zur Stärkung des Immunsystems

Eine allgemeine Therapie zur Immunstärkung kann mit spezifischen Nährstoffen und entzündungshemmenden Präparaten durchgeführt werden. Vitamine und Nährstoffe wie Vitamin D, C, Zink und andere immunrelevante Substanzen helfen, die allgemeine Immunfunktion zu verbessern. Auch Curcumin, ein pflanzliches Präparat mit stark entzündungshemmenden Eigenschaften, hat sich bei chronischen Entzündungen bewährt.


Spezifische Therapien bei Viruspersistenz und Immunabwehrdysfunktion

Für gezielte Therapieansätze kommen verschiedene Optionen infrage, je nach Ursache und Labordiagnose:


  • Antivirale Therapie: Wenn eine Viruspersistenz oder -resistenz nachgewiesen ist, kann eine antivirale Therapie in Erwägung gezogen werden, um das Virus direkt zu bekämpfen.

  • Ausleitungstherapie für Spikeprotein: Bei persistierendem Spike-Protein kann eine Ausleitungstherapie sinnvoll sein, um verbleibende Viruspartikel oder Proteinfragmente aus dem Körper zu entfernen.

  • Therapie bei reaktivierten oder opportunistischen Infektionen: Eine direkte Unterstützung und Behandlung dieser Infektionen kann die Immunbelastung reduzieren und das Immunsystem entlasten.

  • Autoantikörpertherapie: Sollten Autoantikörper nachweisbar sein, könnten spezifische Therapien in Zukunft gezielt darauf ausgerichtet werden, diese Autoimmunreaktionen zu reduzieren.


Fazit

Long-COVID und ME/CFS zeigen, wie SARS-CoV-2 das Immunsystem aus dem Gleichgewicht bringt und eine komplexe Dysregulation in den Immunantworten hervorruft. Die Störung des angeborenen Immunsystems – insbesondere durch überaktive Makrophagen und NK-Zellen – und die Dysfunktion des adaptiven Immunsystems, bei der T-Zellen erschöpfen und die B-Zell-Antwort überschießend wird, führen zu einer unzureichenden Virusbekämpfung und anhaltenden Entzündungen. Diese Prozesse fördern die Persistenz des Virus, die Reaktivierung latenter Erreger und die Entstehung von Autoimmunreaktionen, was das Risiko für chronische Symptome und Gewebeschäden erhöht.


Diagnostische Fortschritte ermöglichen es inzwischen, diese Immunveränderungen im Labor nachzuweisen und die zugrunde liegenden Mechanismen besser zu verstehen. Die Kombination aus unspezifischen Immunstärkungen und spezifischen, gezielten Therapien bietet erste Ansätze, um Betroffene zu unterstützen. Dennoch sind weitere Forschung und Therapieentwicklungen notwendig, um die Langzeitfolgen dieser Immunfehlregulationen erfolgreich zu behandeln.


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