Mestinon (Pyridostigmin) wird aktuell bei ME/CFS, Long-COVID und PoTS regelmäßig eingesetzt. Wir sehen uns die Studienlage hierzu an.
Was ist Mestinon?
Pyridostigmin, bekannt unter dem Handelsnamen Mestinon, ist ein Acetylcholinesterase-Hemmer, der ursprünglich zur Behandlung der Myasthenia gravis entwickelt wurde. In jüngster Zeit wird sein Einsatz bei Erkrankungen wie dem Posturalen orthostatischen Tachykardiesyndrom (POTS), der Myalgischen Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) und Long-COVID untersucht, insbesondere aufgrund seines Einflusses auf das autonome Nervensystem.
Was ist Myasthenia gravis?
Myasthenia gravis ist eine chronische Autoimmunerkrankung, bei der Antikörper die Acetylcholinrezeptoren an der neuromuskulären Endplatte angreifen. Dies führt zu einer gestörten Signalübertragung zwischen Nerv und Muskel, was sich durch Muskelschwäche und schnelle Ermüdbarkeit äußert. Pyridostigmin verbessert die Signalübertragung, indem es den Abbau von Acetylcholin hemmt, wodurch die Muskelkontraktion erleichtert wird.
Wirkmechanismus von Pyridostigmin
Pyridostigmin blockiert die Acetylcholinesterase, ein Enzym, das Acetylcholin im synaptischen Spalt abbaut. Dadurch bleibt mehr Acetylcholin verfügbar, was die cholinerge Signalübertragung verstärkt.
Acetylcholin ist ein zentraler Neurotransmitter, der im zentralen (ZNS) und peripheren Nervensystem (PNS) zahlreiche Funktionen übernimmt.
Zentrales Nervensystem: Acetylcholin spielt eine zentrale Rolle bei Gedächtnis, Lernen und Aufmerksamkeit. Besonders im Hippocampus, einem entscheidenden Bereich für die Gedächtnisbildung, ist seine Funktion unerlässlich. Ein Mangel an Acetylcholin wird mit Alzheimer-Erkrankungen und anderen kognitiven Beeinträchtigungen in Verbindung gebracht.
Motorisches Nervensystem: Im motorischen Nervensystem wirkt Acetylcholin an der neuromuskulären Endplatte. Dort ermöglicht es die Übertragung von Signalen, die zu Muskelkontraktionen führen, und ist somit für die Steuerung der Bewegung essenziell.
Autonomes Nervensystem: Im autonomen Nervensystem ist Acetylcholin der Hauptneurotransmitter des Parasympathikus, der für "Ruhe und Verdauung"-Reaktionen verantwortlich ist. Es reguliert wesentliche Prozesse wie die Verlangsamung der Herzfrequenz, die Förderung der Verdauung, die Beweglichkeit des Darms und die Drüsenaktivität, einschließlich Speichel- und Schweißproduktion.
Weitere Funktionen: Acetylcholin beeinflusst entzündliche Prozesse über die "cholinerg entzündungshemmende Bahn", die eine wichtige Rolle bei der Immunregulation spielt. Durch die Hemmung der Zytokinfreisetzung trägt Acetylcholin zur Kontrolle von Entzündungsreaktionen bei und schützt den Körper vor den schädlichen Auswirkungen chronischer Entzündungen.
Seine vielfältigen Effekte auf das Nervensystem und die Immunfunktion machen Acetylcholin besonders relevant für Erkrankungen wie ME/CFS, POTS und Long-COVID, bei denen das autonome Nervensystem und entzündliche Prozesse oft gestört sind und auch häufig eine muskuläre Fatigue und kognitive Störungen vorliegen.
Pyridostigmin bei Long-COVID
Bei Long-COVID stehen Symptome wie Fatigue, kognitive Dysfunktion und orthostatische Intoleranz im Vordergrund. Es wird angenommen, dass neuroinflammatorische Prozesse und autonome Dysfunktionen eine zentrale Rolle spielen.
Eine Beobachtungsstudie von Goodman et al. (2023), veröffentlicht in Frontiers in Neurology, untersuchte die Wirkung von Pyridostigmin bei Long-COVID-Patient:innen mit autonomen Dysfunktionen wie Sinustachykardie/PoTS und Fatigue. In der Studie erhielten 40 Patient:innen über einen Zeitraum von acht Wochen 30 mg Pyridostigmin ein- bis zweimal täglich. Die Symptome wurden mithilfe standardisierter Fragebögen wie der Fatigue Severity Scale und dem Orthostatic Intolerance Questionnaire erfasst.
Die Ergebnisse zeigten, dass sich bei 60 % der Teilnehmer:innen die Ruheherzfrequenz um mehr als 10 Schläge pro Minute verringerte. Zudem sank der Durchschnittswert der Fatigue auf der Fatigue Severity Scale signifikant von 7,1 auf 4,8 (p < 0,05). Etwa 50 % der Teilnehmerberichteten über eine subjektive Verbesserung ihrer Lebensqualität. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Pyridostigmin insbesondere bei Fatigue und autonomen Symptomen von Long-COVID hilfreich sein kann. Die positiven Effekte werden auf die Stabilisierung der parasympathischen Aktivität zurückgeführt.
Pyridostigmin bei ME/CFS
Eine Pilotstudie von Hooper et al. (2018), veröffentlicht in Clinical Autonomic Research, untersuchte den Einsatz von Pyridostigmin bei Patient:innen mit Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) und dokumentierter orthostatischer Intoleranz. Zwölf Patient:innen erhielten über sechs Wochen zweimal täglich 30 mg Pyridostigmin. Die Symptome wurden anhand von standardisierten Skalen zur Fatigue, orthostatischen Intoleranz und kognitiven Leistung sowie durch Messungen physiologischer Parameter wie Herzfrequenz und Blutdruck erfasst.
Die Ergebnisse zeigten, dass 75 % der Teilnehmer:innen eine verbesserte orthostatische Toleranz berichteten, mit einer deutlichen Reduktion von Symptomen wie Schwindel und Schwäche in aufrechter Position. Außerdem wurde eine moderate Abnahme der Fatigue um durchschnittlich 20 % festgestellt. Es traten keine schwerwiegenden Nebenwirkungen auf. Diese Ergebnisse legen nahe, dass Pyridostigmin eine vielversprechende symptomatische Behandlung für ME/CFS mit autonomen Dysfunktionen darstellen könnte.
Pyridostigmin bei POTS
Eine randomisierte, kontrollierte Studie (RCT) von Raj et al. (2005), veröffentlicht im Journal of the American College of Cardiology, analysierte die Wirksamkeit von Pyridostigmin bei Patient:innen mit Posturalem orthostatischem Tachykardiesyndrom (POTS). Siebzehn Teilnehmererhielten einmalig entweder 30 mg Pyridostigmin oder ein Placebo. Die Wirkung auf die Herzfrequenz (HF), den Blutdruck (RR) und die orthostatische Intoleranz wurde während eines 10-minütigen Kipptischtests untersucht.
Die Studie ergab, dass Pyridostigmin die Herzfrequenz in aufrechter Position signifikant senken konnte (durchschnittlich -10 Schläge pro Minute, p < 0,01), ohne den Blutdruck zu beeinflussen. Zudem berichteten die Teilnehmer:innen über eine subjektive Verbesserung von Symptomen wie Herzklopfen und Schwindel. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Pyridostigmin eine wirksame Option zur Reduktion der orthostatischen Tachykardie ist, da es die Balance des autonomen Nervensystems verbessert.
Fazit:
Mestinon (Pyridostigmin) ist ein Acetylcholinesterase-Hemmer hat sich zunehmend als Therapieoption bei Long-COVID, ME/CFS und insbesondere PoTS etabliert hat. Sein Wirkmechanismus, der auf der Hemmung des Acetylcholinabbaus basiert, verbessert die Signalübertragung im Nervensystem und wirkt sich neben anderen Wirkungen positiv auf das autonome Nervensystem aus.
Die bewerteten Studien weisen darauf hin, dass Pyridostigmin bei Dysautonomien, insbesondere bei einer orthostatischen Intoleranz, die stärksten Effekte zeigt. Bereits mit geringen Dosierungen lassen sich relevante Verbesserungen der Symptome wie Tachykardie, Fatigue und orthostatische Intoleranz erreichen. Andere Effekte, wie die Verbesserung der Fatigue, wurden ebenfalls gut dokumentiert. Dies legt nahe, dass Pyridostigmin besonders sinnvoll eingesetzt werden kann, wenn eine autonome Funktionsstörungen bei Long-COVID oder ME/CFS eine zentrale Rolle spielt.
Unklar bleibt, ob Pyridostigmin auch Effekte auf kognitive Symptome, immunologische Prozesse oder eine Sympathikusüberaktivierung hat. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf.
Quellen
Kandel, E. R., Schwartz, J. H., Jessell, T. M., Siegelbaum, S. A., & Hudspeth, A. J. (2013). Principles of neural science (5th ed.). McGraw-Hill Education.
Tracey, K. J. (2007). Physiology and immunology of the cholinergic antiinflammatory pathway. Journal of Clinical Investigation, 117(2), 289–296.
Goodman, B. P., Chahal, K. K., Keeling, D., & Raj, S. R. (2023). Pyridostigmine as a treatment for autonomic symptoms in Long-COVID: A preliminary observational study. Frontiers in Neurology, 14, Article 1058751.
Hooper, R., Pankaj, R., & Mathias, C. J. (2018). Pyridostigmine in the treatment of chronic fatigue syndrome with orthostatic intolerance: A pilot study. Clinical Autonomic Research, 28(1), 71–77.
Raj, S. R., Black, B. K., Biaggioni, I., Harris, P. A., & Robertson, D. (2005). Acetylcholinesterase inhibition improves tachycardia in postural tachycardia syndrome: A randomized, placebo-controlled trial. Journal of the American College of Cardiology, 45(3), 304–309.DOI: 10.1161/CIRCULATIONAHA.104.497594
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