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Minocyclin in der Behandlung von ME/CFS: Übersicht der Evidenz

  • Autorenbild: Dr. med. Kristina Schultheiß
    Dr. med. Kristina Schultheiß
  • 15. Juli
  • 14 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 21. Juli


Lexikonseite mit Antibiotique und Pillen
Minocyclin - ein besonderes Antibiotikum

Was ist Minocyclin?

Minocyclin (INN = Minocycline) ist ein halbsynthetisches Derivat der Tetrazyklin-Antibiotika und gehört zur sog. zweiten Generation dieser Klasse. Es wurde Ende der 1960er-Jahre von Lederle Laboratories entwickelt, 1967 erstmals klinisch vorgestellt und 1971 von der US-FDA zugelassen – als breit wirksames, lipophiles Antibiotikum, das dank seiner hohen Fettlöslichkeit auch die Blut-Hirn-Schranke gut passiert.   


Seine primäre antimikrobielle Wirkung besteht – wie bei allen Tetrazyklinen – in der Bindung an die 30 S-Unter­einheit bakterieller Ribosomen, wodurch die Protein­synthese (Elongations­schritt) blockiert wird; das Resultat ist eine bakteriostatische Hemmung. Wegen der besonderen Lipophilie wirkt Minocyclin in vitro gegen etliche Erreger, die für andere Tetrazykline schwer zugänglich sind, und erreicht hohe Gewebe- sowie Liquor­spiegel. 


Neben dieser antibiotischen Hauptwirkung weist Minocyclin “nicht-antibiotische” Eigenschaften auf – u. a. Hemmung von Matrix­metallo­proteinase-9, Mikroglia-Aktivierung, oxidativem Stress und Apoptose – weshalb es seit rund zwei Jahrzehnten auch als möglicher neuroprotektiver und immun­modulatorischer Wirkstoff erforscht wird.   


Wo wird Minocyclin heute eingesetzt?

Seine antibiotischen Einsatzgebiete umfassen vor allem Infektionen der Atemwege (z. B. durch Mycoplasma pneumoniae, Chlamydia pneumoniae oder Haemophilus influenzae), Haut- und Weichteilinfektionen, etwa verursacht durch Staphylococcus aureus oder Streptococcus pyogenes, sowie urogenitale Infektionen, insbesondere durch Chlamydia trachomatis und Ureaplasma urealyticum. Darüber hinaus wird es bei verschiedenen Zoonosen wie Rickettsiosen (z. B. Rocky-Mountain-Spotted-Fever), Q-Fieber oder Brucellose eingesetzt. In bestimmten Situationen dient Minocyclin auch als Alternative zur Postexpositionsprophylaxe bei Milzbrand (Anthrax). In der Dermatologie wird es häufig zur systemischen Langzeittherapie bei entzündlicher Akne vulgaris verwendet.


Neben diesen klassischen Indikationen wird Minocyclin zunehmend auch Off-Label untersucht, da es anscheinend über antientzündliche und neuroprotektive Eigenschaften verfügt. So kommt es unter anderem bei rheumatoider Arthritis als sogenanntes disease-modifying antirheumatic drug (DMARD) zum Einsatz. In der Neurologie wird Minocyclin experimentell zur Neuroprotektion bei Schlaganfall, Multipler Sklerose, Parkinson, ALS und Huntington-Krankheit getestet. Auch in der Psychiatrie wird es in Studien als Zusatztherapie bei therapieresistenter Depression oder bipolarer Störung geprüft, wobei hier vor allem seine hemmende Wirkung auf Mikroglia und entzündliche Signalwege relevant ist. Zudem wird Minocyclin experimentell bei chronischen Schmerzsyndromen und neuropathischen Schmerzen eingesetzt, um glia-vermittelte Schmerzprozesse zu modulieren. In der Dermatologie wird es darüber hinaus niedrig dosiert zur Behandlung von Rosazea und perioraler Dermatitis genutzt. Neuere Ansätze untersuchen den Einsatz von Minocyclin auch bei Long-COVID und ME/CFS, um die zugrunde liegende Neuroinflammation zu hemmen und zentrale Symptome wie Fatigue und kognitive Einschränkungen zu verbessern.


Hintergrund und rationale Grundlagen

Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist bekannterweise eine komplexe, schwerwiegende Erkrankung, gekennzeichnet durch anhaltende Erschöpfung, Post-Exertional Malaise (PEM, Zustandsverschlechterung nach geringer Belastung), nicht-erholsamen Schlaf und weitere neurologische, kognitive und autonome Symptome.


Die Forschung deutet auf neuroinflammatorische Prozesse als einen zentralen Faktor im multifaktoriellen Ursachengefüge der Krankheitsgenese hin, jedoch nicht als alleinige Ursache. Zum Beispiel zeigte eine PET-Studie erhöhte Mikroglia-Aktivität im Gehirn von ME/CFS-Patienten.


Wirkmechanistisch wurde gezeigt, dass Minocyclin unabhängige nicht-antibiotische Effekte ausübt, darunter anti-inflammatorische, immunmodulatorische und neuroprotektive Wirkungen. Insbesondere hemmt es die Aktivierung von Mikrogliazellen und die Produktion entzündlicher Mediatoren: So unterdrückt Minocyclin z.B. die Expression von Matrix-Metalloproteinase-9 und schützt die Blut-Hirn-Schranke. Weiterhin schützt es Neuronen vor Ischämie- und Trauma-Schäden und hemmt induzierbares NO-Synthase (iNOS) in Mikrogliazellen unter Hypoxie.


In Tiermodellen konnte Minocyclin die Entwicklung von Neuroinflammation und fatigue-ähnlichem Verhalten erfolgreich verhindern. Aufgrund dieser Eigenschaften wurde Minocyclin als möglicher therapeutischer Ansatz für ME/CFS diskutiert.


Klinische Studien und Fallberichte (menschliche Evidenz)


Frühe Untersuchungen (Infektionsassoziierte Fatigue): 

Erste Hinweise auf einen möglichen Nutzen von Minocyclin stammen aus Studien zu postinfektiösen Fatigue-Syndromen. Arashima et al. (2004) führten eine offene Studie bei 20 Patienten mit Post-Q-Fieber Fatigue-Syndrom durch – einer andauernden Erschöpfung nach Coxiella-burnetii-Infektion. Die Patienten erhielten Minocyclin 100 mg/Tag über 3 Monate.


Ergebnis: Alle 20 Patienten zeigten klinische Besserungen, u.a. Rückgang von subfebrilen Temperaturen (in 13/17 Fällen mit Fieber), eine Verringerung der allgemeinen Fatigue bei allen (20/20) Patienten sowie weniger Kopfschmerzen (9/12) . Der mittlere Performance-Status (PS; 0=gesund, 9=bettlägerig) verbesserte sich signifikant von 5,0 auf 1,8 (p<0.01) . Zudem wurden bei allen 7 initial PCR-positiven Patienten keine Coxiella-DNA mehr nachgewiesen und die erhöhten Antikörpertiter (IgM/IgG) sanken deutlich . Die Autoren schlossen, dass eine Minocyclin-Therapie bei post-Q-Fieber Fatigue die unspezifischen chronischen Symptome deutlich lindern kann.


An diese Ergebnisse schloss eine Pilotstudie von Iwakami et al. (2005) an, die gezielt untersuchte, ob Coxiella-Infektionen bei klassischem ME/CFS eine Rolle spielen. In dieser Studie erhielten 8 ME/CFS-Patienten und 54 Patienten mit chronischer Fatigue (erfüllten die ME/CFS-Kriterien nicht, überwiegend Post-Q-Fieber) und positivem Coxiella-Nachweis eine 3-monatige Therapie mit Minocyclin oder Doxycyclin (100 mg/Tag). Zwar waren nach Antibiotika-Therapie alle 58 behandelten Personen PCR-negativ für C. burnetii, jedoch zeigte sich ein deutlicher Unterschied zwischen den Gruppen: Die ME/CFS-Patienten zeigten keinerlei statistisch signifikante Verbesserung von Temperatur, Kopfschmerz oder Fatigue-Schwere (PS-Score). Hingegen profitierte die Post-Q-Fieber-Gruppe signifikant: Fieber und Kopfschmerzen nahmen ab (p<0,001) und der Fatigue-Score besserte sich ebenfalls deutlich. Die Autoren schlussfolgerten, dass eine aktive Coxiella-Infektion selten die Ursache von klassischem CFS ist – Antibiotika brachten in dieser Gruppe keinen Nutzen – während Patienten mit echten Post-Q-Fieber-Fatigue-Syndromen davon profitieren . Diese frühen Befunde suggerierten, dass Minocyclin insbesondere bei infektiös getriggerter Fatigue hilfreich sein könnte, bei ideopathischem ME/CFS aber allein durch antimikrobielle Wirkung wenig Effekt zeigt.


Aktuelle Studien (letzte 10 Jahre): 

In den 2010er und 2020er Jahren rückte Minocyclin im Kontext ME/CFS erneut in den Fokus, vor allem durch Arbeiten aus Japan. Miwa (2021) publizierte eine offene klinische Studie mit 100 ME-Patienten gemäß International Consensus Criteria (ICC). Die Patienten erhielten eine orale Minocyclin-Therapie über 6 Wochen (Tag 1: 2×100 mg, danach 1×100 mg täglich) . Als primärer Endpunkt diente der Performance-Status (PS 0–9) sowie klinische Messungen von orthostatischer Intoleranz (10-Minuten-Stehtest), Gleichgewichtsstörungen und chronischen Schmerzen.


Ergebnisse: 62 Patienten konnten die 6-Wochen-Therapie abschließen (38 % brachen frühzeitig ab, dazu unten mehr). Von diesen 62 zeigten 27 Patienten (44 %) eine deutliche Besserung – definiert als Abnahme des PS-Score um ≥2 Punkte. In der Gesamtgruppe entsprach dies etwa 27 % aller Behandelten. Insbesondere besserten sich Symptome wie orthostatische Intoleranz: 6 von 27 Respondern konnten zu Therapiebeginn keinen 10-minütigen Stehtest durchhalten, nach Minocyclin jedoch 4 von 6 komplett und 2 teilweise. Ebenso normalisierte sich ein Posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom (POTS) bei 5 von 8 Betroffenen, Gleichgewichtsstörungen (Romberg-Test positiv) verschwanden bei 5 von 8, und Fibromyalgie-ähnliche Schmerzen oder Neuropathien reduzierten sich bei 4 von 5 Patienten .


Interessanterweise hing der Therapieerfolg stark von der Krankheitsdauer ab: Patienten mit kürzerer Erkrankungsdauer sprachen deutlich häufiger an. Bei Krankheitsdauer <3 Jahren lag die Responderrate bei ~54 %, während sie bei Patienten mit >3 Jahren ME nur ~22 % betrug  . Am ausgeprägtesten war der Effekt, wenn die Behandlung innerhalb der ersten 6 Monate nach Krankheitsbeginn erfolgte – hier besserten sich 78 % der Patienten.


Nebenwirkungen: Leider zeigte sich, dass 38 % (38/100) der Patienten die Einnahme bereits in den ersten Tagen abbrechen mussten, meist aufgrund von akutem Schwindel und Übelkeit unter Minocyclin. Diese hohe Intoleranzrate bei ME/CFS-Patienten ist bemerkenswert; Miwa vermutet eine erhöhte Medikamentensensitivität im Verlauf der Erkrankung, was erklären könnte, warum insbesondere Patienten mit längerer Krankheitsdauer Minocyclin schlechter vertrugen  . Insgesamt lautet das Fazit dieser Studie, dass Minocyclin für etwa ein Viertel der ME-Patienten eine spürbare Besserung bringen kann, vor allem wenn früh im Krankheitsverlauf eingesetzt, jedoch durch Nebenwirkungen limitiert ist.


Aufbauend auf diesen Ergebnissen untersuchte Miwa (2024) Minocyclin gezielt bei ME-ähnlichen Zuständen im Zusammenhang mit COVID-19. Diese prospektive Pilotstudie umfasste 55 Patienten, darunter 19 Fälle von Long-COVID (postakutes COVID-19-Syndrom mit ME/CFS-ähnlicher Symptomatik) sowie 5 Patienten mit Post-Vakzin-Syndrom (dauerhafte Fatigue nach COVID-Impfung). Alle Probanden hatten ihre Krankheit in der “Corona-Ära” entwickelt, viele mit kurzer Krankheitsdauer. Das gleiche 6-Wochen-Minocyclinprotokoll (2×100 mg am ersten Tag, dann 100 mg/d) wurde angewandt.


Ergebnisse: Die Verträglichkeit war in diesem Kollektiv deutlich besser – nur 4 von 55 Patienten (7 %) brachen in den ersten Tagen wegen Übelkeit/Schwindel ab . Unter den 51 Patienten, die die Therapie abschlossen, zeigten 41 Patienten (80 %) eine klinisch bedeutsame Verbesserung (Definition analog: PS oder ADL-Index um ≥2 Punkte besser). Wiederum korrelierte eine kurze Krankheitsdauer signifikant mit Therapieerfolg (p=0,02). Besonders hervorzuheben: Bei Patienten, deren ME-Symptome <6 Monate bestanden, lag die Ansprechrate bei 90 % (27/30). Von den Long-COVID-Patienten sprachen 89 % (16/18) auf Minocyclin an . Subjektiv kam es zu signifikanten Verbesserungen mehrerer Kernsymptome, nämlich Fatigue, PEM, nicht-erholsamer Schlaf, “Brain Fog” (kognitive Dysfunktion), Gleichgewichtsstörungen, orthostatische Intoleranz und neuropathische Schmerzen.


Das Fazit der Autoren lautet, dass Minocyclin – rechtzeitig gegeben – eine effektive First-Line-Therapie für ME/CFS-ähnliche Erkrankungen in Zusammenhang mit COVID sein könnte . Interessanterweise waren die Erfolgschancen in dieser Studie höher und die Abbruchrate geringer als 2021; dies führen Miwa et al. darauf zurück, dass die Patienten hier größtenteils zeitnah nach Krankheitsbeginn behandelt wurden (und evtl. weniger medikamentensensitiv waren) . Dennoch bestätigte sich der gleiche Trend wie 2021: die Wirksamkeit von Minocyclin war bei kurzer Krankheitsdauer am größten .


Neben diesen größeren Fallserien gibt es auch einzelne Fallberichte. Ein herausragendes Beispiel beschreibt Miwa (2022) eine 22-jährige Patientin mit seit 14 Monaten bestehendem Long-COVID-Syndrom (anhaltende Fatigue, kognitive und orthostatische Symptome)  . Die Patientin war erheblich beeinträchtigt (PS=6 von 9, nicht arbeitsfähig) und hatte auf symptomatische Therapien (inkl. Antidepressiva) nicht angesprochen. Unter einer 6-wöchigen Minocyclin-Therapie (100 mg/d) erholte sie sich schrittweise und schließlich vollständig: Am Therapieende waren sämtliche Symptome remittiert, der PS verbesserte sich von 6 auf 1, und die Patientin konnte ihre Arbeit wieder aufnehmen . Dieser dramatische Erfolg im Einzelfall untermauert die zuvor gesehene hohe Wirksamkeit bei Long-COVID-assoziierter ME/CFS-Symptomatik. Allerdings bleibt unklar, wie generalisierbar solche Einzelfälle sind; kontrollierte Studien fehlen bislang.


Anmerkung: Außerhalb von Japan liegen bislang kaum Publikationen zu Minocyclin bei ME/CFS vor. Ein indirekter Befund aus den Niederlanden ist jedoch relevant: die Qure-Studie (Keijmel et al., 2017) untersuchte in einem Placebo-kontrollierten Design die Wirkung einer 24-wöchigen Antibiotikatherapie (Doxycyclin 200 mg/Tag) bei Q-Fieber-Fatigue-Patienten. Ergebnis: Doxycyclin erwies sich als nicht wirksamer als Placebo in Bezug auf die Fatigue-Ausprägung (primärer Endpunkt: Fatigue Severity Score) . Hingegen brachte eine parallel geprüfte kognitive Verhaltenstherapie signifikante Verbesserungen. Dieser hochqualitative RCT deutet darauf hin, dass eine Langzeit-Tetrazyklintherapie allein (zumindest bei post-Q-Fieber-Syndrom) keinen Nutzen gegenüber Placebo hat. Die Diskrepanz zu den offenen Studienerfolgen (Arashima 2004) könnte an Methodik (Placeboeffekt in offenen Studien) oder Unterschieden im Patientenkollektiv liegen. Jedenfalls unterstreicht der Qure-Trial die Notwendigkeit, die vielversprechenden Befunde zu Minocyclin in kontrollierten Studien zu überprüfen, bevor es als Standardtherapie empfohlen werden kann.

Frau in blauem Pyjama die sich den Bauch hält
Übelkeit ist ein sehr häufiges Abbruchkriterium bei sog. Non-Respondern

Konsistente klinische Effekte von Minocyclin bei ME/CFS (und Long COVID)

Die bisher veröffentlichten Studien und Fallserien (v. a. von Miwa et al.) zeigen trotz methodischer Unterschiede ein recht einheitliches Muster der berichteten Verbesserungen. Am konsistentesten besserten sich folgende Kernsymptome:


Fatigue und körperliche Leistungsfähigkeit

In praktisch allen Studien war die Abnahme der krankheitsbedingten Erschöpfung das auffälligste Ergebnis. Viele Patient:innen berichteten über mehr Energie, weniger „Crashs“ nach Alltagsbelastung und insgesamt eine verbesserte Belastbarkeit.


Post-Exertional Malaise (PEM)

Typisch für ME/CFS ist die Zustandsverschlechterung nach kleinster Anstrengung. Unter Minocyclin zeigte sich in mehreren Arbeiten eine deutliche Reduktion der PEM, sodass Betroffene wieder mehr Aktivitäten ohne starke Rückschläge ausführen konnten.


Kognitive Symptome („Brain Fog“)

Nahezu alle Studien berichten über Verbesserungen bei Konzentrationsstörungen, Denkverlangsamung, Wortfindungsproblemen oder mentaler Erschöpfung. Viele Patient:innen beschrieben einen „klareren Kopf“ und mehr geistige Leistungsfähigkeit.


Orthostatische Intoleranz (OI) und Gleichgewichtsstörungen

Insbesondere in den japanischen Studien besserten sich Symptome wie Schwindel beim Aufstehen, Herzrasen oder Gleichgewichtsstörungen. Auch Messwerte (z. B. Stehtest) zeigten teilweise objektive Verbesserungen.


Schmerzsymptome

In einem kleineren Teil der Studien, aber konsistent bei den dokumentierten Respondern, wurden diffuse Muskel- und Gelenkschmerzen, neuropathische Beschwerden oder fibromyalgieartige Schmerzen gelindert.



Mögliche Wirkmechanismen im Kontext von ME/CFS

Minocyclin zeichnet sich durch ein breites pharmakologisches Wirkspektrum aus, das über die antibakterielle Aktivität hinausgeht. Im Kontext von ME/CFS werden vor allem folgende Mechanismen diskutiert:


Hemmung neuroinflammatorischer Prozesse: 

Es gibt Evidenz dafür, dass aktivierte Mikroglia und neuroinflammatorische Vorgänge im ZNS zur Symptomgenese von ME/CFS beitragen. Minocyclin ist eines der bekanntesten Mikroglia-hemmenden Medikamente. In vitro und in vivo Studien belegen, dass Minocyclin die Aktivierung von Mikrogliazellen dämpft und die Freisetzung proinflammatorischer Zytokine reduziert. Dadurch werden entzündliche Schädigungen von Neuronen vermindert. Dieser immunmodulatorische Effekt könnte erklären, warum Minocyclin in ME/CFS-Patienten mit vermuteter chronischer Neuroinflammation (z.B. nach Virusinfektionen oder bei erhöhten Entzündungsmarkern) eine Besserung bewirkt. Interessanterweise gelten Tetrazykline (insbesondere Minocyclin) als am effektivsten unter den Antibiotika in Bezug auf Neuroprotektion – zahlreiche neurologische Tiermodelle untermauern dies .


Anti-inflammatorische und anti-oxidative Effekte: 

Über die Mikroglia-Wirkung hinaus beeinflusst Minocyclin auch periphere und zentrale Entzündungskaskaden. Es hemmt bestimmte Matrix-Metalloproteinasen (MMP), insbesondere MMP-9, was die Integrität der Blut-Hirn-Schranke schützt . Damit wird verhindert, dass Entzündungszellen und -mediatoren ungehindert ins Gehirn eindringen. Außerdem reduziert Minocyclin die Expression von iNOS und damit die Produktion von NO-Radikalen in Immunzellen . Dies kann oxidativen Stress senken – ein Faktor, der in ME/CFS als erhöht beschrieben wurde.


Studien in einem Mausmodell für Chronic Fatigue Stress ergaben, dass Minocyclin die durch Dauerbelastung induzierten oxidativen Schäden im Gehirn minderte und die Mitochondrienfunktion verbesserte. Die Kombination von Minocyclin mit dem entzündungshemmenden Wirkstoff Licofelon führte gar zu synergistischen Effekten auf Verhalten, oxidativen Stress und Mitochondrienstoffwechsel  . Diese Befunde zeigen, dass Minocyclin als entzündungshemmendes und zellschützendes Mittel wirken kann, was bei ME/CFS mit systemischer low-grade Inflammation und energiemetabolischen Störungen therapeutisch nützlich sein könnte.


Neuroprotektive und gliazell-inhibierende Wirkung: 

Minocyclin hat sich in diversen neurologischen Modellen (Trauma, Schlaganfall, neurodegenerative Erkrankungen) als neuroprotektiv erwiesen. Es reduziert apoptotische Prozesse (z.B. Caspase-1-Aktivierung bei Hirnverletzung) und verhindert den Verlust von Nervenzellen. Auch im Kontext chronischer Schmerzzustände spielt Mikrogliaaktivierung im Rückenmark eine Rolle – hier konnte Minocyclin in Tierstudien neuropathische Schmerzen lindern, indem es die gliale Ausschüttung pro-schmerzfördernder Substanzen blockierte  . ME/CFS-Patienten weisen oft eine Überempfindlichkeit auf Reize und Schmerzen auf; eine Hypothese ist, dass überaktivierte Glia im zentralen Nervensystem verstärkt Schmerz- und Erschöpfungssignale generieren. Minocyclin’s dämpfender Einfluss auf Astrozyten und Mikroglia könnte daher die “Übererregbarkeit” neuraler Netzwerke reduzieren und Symptome wie Brain Fog, Schlafstörungen und Schmerzen verbessern. Zudem wird diskutiert, dass Minocyclin die Glutamat-Toxizität abschwächen könnte, indem es glutamatregulierende Mechanismen beeinflusst – was ebenfalls neuroprotektiv wirkt (dies ist aus Studien zu neurodegenerativen Krankheiten bekannt, aber bei ME/CFS noch hypothetisch).


Antimikrobielle und antivirale Effekte: 

Da Minocyclin ein Breitbandantibiotikum ist, könnte ein Teil seiner Wirksamkeit bei ME/CFS auf der Bekämpfung persistierender infektiöser Trigger beruhen. Viele ME/CFS-Fälle beginnen nach Infektionen; Mykoplasmen, Chlamydien oder Rickettsien wurden als mögliche (Ko-)Faktoren diskutiert. Minocyclin ist gegen genau diese Erreger aktiv. So sprach z.B. eine Subgruppe von Patienten mit nachweisbaren Erregern (Coxiella in den Q-Fieber-Studien) besonders gut auf die Therapie an, vermutlich weil Minocyclin hier die zugrundeliegende Infektion eindämmte  . Neben Bakterien hemmt Minocyclin laut in-vitro-Daten auch bestimmte Viren (etwa zeigt es Aktivität gegen einige RNA-Viren durch Hemmung von Proteasen und Metallionen 2). Daher wird spekuliert, dass es bei Long COVID (vermutlich virale Reste/Entzündung) direkt antiviral wirken könnte. Allerdings sind diese Effekte im Vergleich zu den oben genannten immunologischen Wirkungen vermutlich nachrangig für ME/CFS, zumal viele Patienten keine aktive Infektion mehr haben. Dennoch unterstreicht die antimikrobielle Komponente, dass Minocyclin bei infektionsassoziierten Subgruppen doppelt wirksam sein könnte: Es behandelt die Infektion und moduliert die überschießende Immunantwort.


Zusammengefasst greift Minocyclin an zentralen Pathomechanismen an, die in der Pathophysiologie von ME/CFS eine Rolle spielen könnten: chronische Neuroinflammation, Dysregulation der Immunantwort, oxidativer Stress sowie möglicherweise persistierende Triggerinfektionen. Diese pleiotropen Wirkmechanismen liefern eine plausible Erklärung für die breite Palette klinischer Verbesserungen (z. B. Fatigue, Neurokognition, Schmerz) bei den Patient:innen, die auf Minocyclin ansprechen.


Es ist jedoch zu betonen, dass diese Mechanismen größtenteils aus präklinischen Studien oder anderen Krankheitsmodellen extrapoliert wurden — direkte Nachweise im ME/CFS-Kontext (etwa durch Messungen von Mikroglia-Markern vor und nach Minocyclin-Therapie beim Menschen) stehen bislang aus. Zudem ist hervorzuheben, dass eine sorgfältige Patient:innenauswahl entscheidend ist, da der potenzielle Nutzen stark von der Krankheitsaktivität, dem vermuteten Entzündungsgrad sowie einer möglichen viralen Persistenz abhängen dürfte.



Für wen kommt Minocyclin (derzeit) am ehesten infrage?

Die bislang publizierten Fallserien legen nahe, dass Patient:innen in der frühen Krankheitsphase am meisten profitieren: Liegt die Erkrankungsdauer von ME/CFS oder Long COVID bei unter sechs Monaten, sprechen bis zu ≈ 80–90 % an; dauert sie unter drei Jahren, sinkt die Responder-Rate bereits auf ≈ 20–50 %. Jenseits dieser Schwelle (> 3 Jahre) wurden nur vereinzelte Verbesserungen beobachtet, während die Abbruch- und Unverträglichkeitsraten deutlich ansteigen (Übelkeit, Schwindel).


Gemeinsam ist nahezu allen Respondern, dass sich neuroinflammatorische Marker nachweisen oder zumindest indirekt vermuten lassen: PET-Nachweise aktivierter Mikroglia (Nakatomi et al. 2014)  , erhöhte Zytokine (IL-6, TNF-α) im Liquor oder Serum, sowie Hyperinflammations-Profile (hohes CRP/Ferritin) sind typische Befunde. Ebenso plausibel erscheint ein Nutzen bei Patient:innen mit “leaky-brain”-Konstellation, also nachweisbarer Blut-Hirn-Schranken-Störung (erhöhtes Albumin-Quotient, MMP-9 im Liquor, Serum-Marker wie S100β oder MRT-Hinweise auf BBB-Durchlässigkeit) – hier kann die MMP-9-hemmende Wirkung von Minocyclin zusätzlichen Schutz bieten.   


In späten Krankheitsstadien, bei vorbestehender Mastzell- oder Chemikalien-Intoleranz sowie bei fehlender Entzündungsaktivität oder auch Leaky gut-Snydrom oder einer ausgeprägten Dysbiose sind Wirksamkeit und Verträglichkeit von Minocyclin deutlich schlechter einzuschätzen; in solchen Fällen sollte ein Einsatz nur im Rahmen klinischer Studien oder streng individueller Heilversuche erwogen werden.


Nach Beginn der Therapie ist es entscheidend, die ersten Tage sorgfältig abzuwarten, um früh zu erkennen, ob eine Patientin oder ein Patient als Responder eingestuft werden kann. Dies zeigt sich in der Praxis einerseits an einer frühen klinischen Besserung (zum Beispiel weniger Fatigue oder mehr kognitive Klarheit), andererseits an der Verträglichkeit der typischen Nebenwirkungen wie Schwindel oder Übelkeit. Sollten die Symptome nicht tolerierbar sein oder keinerlei klinische Verbesserung eintreten, ist die Behandlung konsequent abzubrechen, da dies auf ein Nichtansprechen hinweist.

Darmzotten
Eine gestörte Darmbarriere ("leaky gut") oder starke Dysbiose können ein Grund gegen Minocyclin sein.

Was sind Nebenwirkungen und Risiken von Minocyclin?

Minocyclin gilt grundsätzlich als gut erforschtes Antibiotikum, ist jedoch nicht nebenwirkungsfrei. Häufig treten zu Beginn der Behandlung Übelkeit, Schwindel oder Benommenheit auf, insbesondere bei Patient:innen mit bestehender Dysautonomie oder erhöhter Reizempfindlichkeit. Auch gastrointestinale Beschwerden wie Magendruck oder weicher Stuhl können vorkommen.


Ein wichtiger Aspekt ist der Einfluss auf das Darmmikrobiom: Wie alle Breitbandantibiotika kann Minocyclin die Zusammensetzung der Darmflora nachhaltig verändern, was zu einer Reduktion der bakteriellen Vielfalt (Dysbiose), Verdauungsproblemen oder einer erhöhten Anfälligkeit für Pilzüberwucherungen (z. B. Candida) führen kann. Bei Patient:innen mit bereits vorgeschädigter Darmbarriere (Leaky-Gut) oder ausgeprägter Dysbiose sollte dieser Punkt besonders beachtet werden.


Bei längerer Einnahme (über mehrere Wochen bis Monate) sind Hautverfärbungen, selten auch Zahnverfärbungen möglich.


In sehr seltenen Fällen kann Minocyclin Leberentzündungen, Lupus-ähnliche Syndrome (medikamenteninduzierter Lupus) oder eine Pseudotumor cerebri (erhöhter Hirndruck mit Kopfschmerzen und Sehstörungen) auslösen. Zudem besteht das Risiko für allergische Reaktionen bis hin zu Überempfindlichkeitsvaskulitiden. Aufgrund seiner hohen Gewebeaffinität können sich bei sehr langfristiger Anwendung Pigmentablagerungen in Haut oder Organen bilden. Um diese Risiken zu minimieren, sollte vor und während der Behandlung eine engmaschige Laborkontrolle (Leber-, Nieren- und Blutbildparameter) erfolgen. Insbesondere Patient:innen mit einer bekannten Mastzellaktivierung oder Multisystemintoleranz neigen häufiger zu Unverträglichkeiten und sollten eng begleitet werden.


Eine Anwednung


Was sind Basis-Laborwerte & Verlaufskontrollen unter Minocyclin?

Vor Therapiebeginn sollte ein großes Blutbild, Leber- (ALT, AST, γ-GT, Bilirubin) und Nierenpanel (Kreatinin, eGFR) bestimmt werden, um seltene hämatologische oder hepatotoxische Reaktionen früh erkennen zu können. Bei einer geplanten Dauer über sechs Wochen empfiehlt sich zusätzlich ein ANA-Screening, da Minocyclin in Einzelfällen ein lupusähnliches Syndrom auslösen kann. Im Verlauf – spätestens nach sechs Wochen, bei Langzeitgebrauch alle drei Monate – werden dieselben Parameter erneut kontrolliert; gleichzeitig können CRP und Ferritin als grobe Entzündungsmarker dienen. Sinken sie, deutet das auf Therapieansprechen; steigen Leberwerte über drei-faches Upper-Limit oder fällt das Blutbild ab, wird abgesetzt.  


Weiter kann eine Mikriobiomanalyse und das Vorliegen eines Leaky-gut Syndroms weiter in der Entscheidungsfindung helfen.


Wie ist das Dosierschema von Minocyclin?

In beiden Miwa-Studien erhielten die Patient:innen am ersten Tag 2 × 100 mg (Gesamt 200 mg) und danach 100 mg einmal täglich über ­weitere 41 Tage – also insgesamt sechs Wochen.


Für empfindliche Personen kann man in der Praxis mit 25 oder 50 mg abends für drei bis fünf Tage einschleichen und dann auf 100 mg/d steigern; die Wirkung beruht auf der kontinuierlichen ­Mikroglia-Blockade, nicht auf ­hohen Spitzenkonzentrationen. Länger als sechs bis acht Wochen liegen bislang keine Studiendaten vor; bei guter Verträglichkeit und anhaltendem Nutzen kann die Gabe jedoch individuell verlängert werden, sofern Laborwerte stabil bleiben.


Was sind die Kosten in Deutschland?

Minocyclin ist rezeptpflichtig; eine 50er-Packung à 100 mg (z. B. Minocyclin-ratiopharm®) kostet in Online-Apotheken knapp 33 € – das deckt bereits die 42 Kapseln, die für den sechswöchigen Kurs benötigt werden. Ein Off-Label-Antrag bei bestehender Neuroinflammation und fehlenden Therapiealternativen hat in Einzelfällen Erfolg, sollte aber vorab mit der Krankenkasse geklärt werden. 


Fazit:

Minocyclin ist ein vielseitiger, seit Jahrzehnten bekanntes Antibiotikum mit bemerkenswerten immunmodulatorischen und neuroprotektiven Eigenschaften, die weit über seine ursprüngliche antimikrobielle Wirkung hinausgehen. Für Patient:innen mit ME/CFS oder Long-COVID, die sich in einer frühen Krankheitsphase befinden und bei denen Hinweise auf aktive Neuroinflammation oder eine gestörte Blut-Hirn-Schranke bestehen, kann Minocyclin ein vielversprechender Therapieansatz sein. Die bisherigen Fallserien zeigen konsistente Verbesserungen insbesondere bei Fatigue, PEM, kognitiven Einschränkungen und orthostatischer Intoleranz — jedoch nur bei einem Teil der Betroffenen, den sog. Respondern.


Zugleich sind die potenziellen Risiken und die hohe Rate an frühen Nebenwirkungen, vor allem bei längerer Krankheitsdauer oder vorbestehender Unverträglichkeit (MCAS), zu beachten. Eine sorgfältige Auswahl der Patient:innen, gründliche Voruntersuchungen, engmaschige Laborkontrollen sowie eine individuelle Dosisanpassung sind essenziell, um den größtmöglichen Nutzen mit möglichst geringer Belastung zu erzielen.


Minocyclin sollte deshalb stets kritisch und personalisiert eingesetzt werden — idealerweise im Rahmen einer engen ärztlichen Begleitung und nach ausführlicher Aufklärung über Chancen und Risiken. Kontrollierte Studien sind dringend nötig, um den tatsächlichen Stellenwert von Minocyclin in der Behandlung von ME/CFS und Long-COVID zu bestätigen und besser zu verstehen.



Quellen:

Arashima, Y., Kumasaka, K., Sakata, R., Watanabe, M., Aono, H., Kawano, K., & Kuratsune, H. (2004). Treatment of patients with Q fever fatigue syndrome: The usefulness of minocycline and doxycycline. FEMS Immunology & Medical Microbiology, 42(2), 199–204.

Iwakami, E., Arashima, Y., Kumasaka, K., Kawano, K., & Kuratsune, H. (2005). Investigation of persistent infection of Coxiella burnetii in Japanese patients with chronic fatigue syndrome and effectiveness of antibiotics therapy. FEMS Immunology & Medical Microbiology, 44(2), 273–275.

Keijmel, S. P., Delsing, C. E., Bleeker-Rovers, C. P., van der Meer, J. W., & Raijmakers, R. P. (2017). Effectiveness of long-term doxycycline treatment and cognitive-behavioral therapy for Q fever fatigue syndrome (Qure study): A randomized controlled trial. Clinical Infectious Diseases, 64(8), 998–1005.

Miwa, K. (2021). Minocycline effects on patients with myalgic encephalomyelitis: An open-label clinical observation. Clinical and Experimental Neuroimmunology, 12(3), 83–92.

Miwa, K. (2022). Long-term improvement after minocycline treatment in a patient with post-COVID-19 myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome. Clinical and Experimental Neuroimmunology, 13(1), 77–79.

Miwa, K. (2024). Early intervention with minocycline in post-COVID-19 fatigue and myalgic encephalomyelitis: A prospective pilot study. Clinical and Experimental Neuroimmunology, 15(2), 101–110. (DOI erscheint noch, da voraussichtlich 2024 online ahead of print)

Nakatomi, Y., Mizuno, K., Ishii, A., Wada, Y., Tanaka, M., Tazawa, S., … & Watanabe, Y. (2014). Neuroinflammation in patients with chronic fatigue syndrome/myalgic encephalomyelitis: An ¹¹C-(R)-PK11195 PET study. Journal of Nuclear Medicine, 55(6), 945–950.


Ergänzende Übersichtsarbeiten zur Wirkung von Minocyclin:

Garrido-Mesa, N., Zarzuelo, A., & Gálvez, J. (2013). Minocycline: Far beyond an antibiotic. British Journal of Pharmacology, 169(2), 337–352.

Plane, J. M., Shen, Y., Pleasure, D. E., & Deng, W. (2010). Prospects for minocycline neuroprotection. Archives of Neurology, 67(12), 1442–1448.

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