Die Pathogenese von Long-COVID ist komplex und noch nicht ausreichend erforscht. Die Erklärungsansätze werden nun durch Teil 2 komplettiert:
In Teil 1 unseres Artikels haben wir einige der wichtigsten Faktoren beleuchtet, die zur Pathogenese von Long-COVID beitragen können. In diesem zweiten Teil werden wir uns weiteren Faktoren widmen.
1. Dysbiose
Die Darmflora spielt eine wichtige Rolle bei der Regulierung des Immunsystems und der Erhaltung der Gesundheit. Eine Dysbiose, bei der das Gleichgewicht der Darmbakterien gestört ist, kann zu anhaltenden Symptomen führen, einschließlich Müdigkeit, Schmerzen und Verdauungsproblemen.
Forscher haben festgestellt, dass viele PatientInnen mit Long-COVID an einer Dysbiose leiden. Dies kann dazu führen, dass das Immunsystem überaktiv wird und Entzündungen im Körper ("silent inflammation") auslöst. Einige Studien deuten darauf hin, dass das Gleichgewicht der Darmflora durch Probiotika und eine gesunde Ernährung wiederhergestellt werden kann, was möglicherweise dazu beitragen könnte, die Symptome von Long-COVID zu lindern. Allerdings sind weitere Forschungen notwendig, um die genaue Beziehung zwischen Dysbiosen und Long-COVID besser zu verstehen.
2. Microclots und Sauerstoffunterversorgung
Das SARS-CoV-2-Virus kann über verschiedene Mechanismen zu einer Aktivierung der Blutgerinnung und letztendlich zu der Bildung von Mikro- oder auch Makrothromben bzw. Blutgerinnsel oder "micro clots" führen. Ein Faktor ist die bereits beschriebenen Entzündung der Gefäßinnenwände (Endotheliitis), oder die starke negative Ladung des Körpers, welche die Blutgerinnung anregt, oder auch die Veränderung der Form und Steifigkeit der Erythrozyten die dann zur Ausbildung von Thromben führen ("Geldrollen-Phänomen").
Die entstandenen Thromben können durch die Blutbahn zu verschiedenen Organe belangen und die kleinsten Gefäße dort verstopfen. Das Gewebe hinter einem solchen Embolus wird dann oft nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt und schränkt seine Funktion ein. Kommt es länger und stetig zu solchen Mikroembolisationen kann das Gewebe dauerhaft mit Sauerstoff unterversorgt sein und auch irreversible Schäden davon nehmen. oder sich zurückbilden. Man vermutet, dass Nierenschäden, Muskelschmerzen, muskuläre Erschöpfung, Atemprobleme oder Polyneuropathien durch eine Sauerstoffunterversorgung ausgelöst werden könnten. Ggf. kann eine Kapillarmikroskopie eine Aussage über die kleinsten Gefäße und deren Funktionszustand geben und eine milde Antikoagulation kann die Gerinnsel auflösen.
3. Hormonelle Dysbalancen
Das SARS-CoV-2-Virus kann auch hormonelle Dysbalancen verursachen, insbesondere im Bereich des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Systems.
Das HPA-System (hypothalamic-pituitary-adrenal axis) spielt eine wichtige Rolle bei der Regulierung von Hormonen, insbesondere des Stresshormons Cortisol. Der Hypothalamus, die Hypophyse und die Nebennieren arbeiten zusammen, um die Menge an Cortisol im Körper zu steuern. Bei Stress wird der Hypothalamus aktiviert, um Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) freizusetzen, das die Hypophyse stimuliert, Adrenocorticotropes Hormon (ACTH) freizusetzen. Dieses Hormon stimuliert dann die Nebennieren, um Cortisol zu produzieren.
Bei einer akuten Infektion kann das HPA-System aktiviert werden, um eine Immunantwort auszulösen. Wenn die Infektion jedoch anhält, kann das HPA-System überaktiv werden, was zu einer Dysfunktion führen kann. Diese Dysfunktion kann dazu führen, dass zu viel oder zu wenig Cortisol produziert wird, was hormonelle Ungleichgewichte verursachen kann.
Einige PatientInnen mit Long-COVID haben niedrige Cortisolspiegel, während andere hohe Cortisolspiegel aufweisen. Diese hormonellen Dysbalancen können zu Symptomen wie Müdigkeit, Schwäche, Gewichtsveränderungen und Schlafstörungen führen. Ebenfalls bedingen sich der Krankheitsstress und die Schlaflosigkeit ebenfalls auf den Hormonspiegel und befeuern diesen Teufelskreise. Hier kann die Bestimmung des Cortisol-Tagesprofils nützlich sein. Ein ganzheitlicher Ansatz beinhaltet neben Stressreduktion und Behandlung der weiteren Kankheitssymptome ebenfalls eine gute Schlafhygiene, sowie physikalische Maßnahmen wie die Kryotherapie oder eine antientzündliche Ernährung.
4. Fehlregulierung des Immunsystems
Das Immunsystem spielt eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Infektionen, aber eine Fehlregulierung oder ein überschießendes Immunsystem kann zu anhaltenden Symptomen und einer generalisierten chronischen Entzündungen führen ("silent inflammation").
Eine Studie aus dem Jahr 2021 hat gezeigt, dass Long COVID-PatientInnen eine erhöhte Aktivierung von T-Zellen aufweisen können. Diese erhöhte Aktivierung kann dazu führen, dass das Immunsystem gegen den eigenen Körper gerichtet wird und Entzündungen im Körper auslöst, die zu den Symptomen von Long-COVID beitragen können. Eine weitere Studie hat gezeigt, dass PatientInnen mit schweren Long-COVID-Symptomen erhöhte Konzentrationen von Zytokinen, einer Art von Entzündungsproteinen, aufweisen können. Diese Zytokine können durch ein überaktives Immunsystem produziert werden und Entzündungen im Körper fördern.
Bei PatientInnen können dann oft erhöhte Infektparameter im Blut festgestellt werden, obwohl dies eher unspezifische Parameter sind. Hier kann z.B. die orthomolekulare Medizin oder weiter Cortikosteroide oder Immunmodulatoren eingesetzt werden.
5. Autoimmunität
Es wurde festgestellt, dass einige Menschen mit Long-COVID in Zusammenhang mit einem überaktiven Immunsystem Autoantikörper entwickelt haben. Dies sind Antikörper gegen körpereigenen Strukturen die das Gewebe angreifen zu einer dauerhaften Entzündung führen können. Ein Zusammenhang von Long-COVID und Autoimmunerkrankungen wurde bereits nachgewiesen.
Eine dieser wahrscheinlichen neuroinflammatorisch autoimmunen Erkrankungen ist das Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS), bei dem PatientInnen unter anhaltender "Fatigue", Belastungsintoleranz, Muskelschwäche, Schmerzen und kognitiven Beeinträchtigungen "brain fog" leiden. In den schwersten Fällen dieser Erkrankung können die PatientInnen bettlägerig sein. Forscher haben auch entdeckt, dass einige PatientInnen mit Long-COVID, genau wie PatientInnen mit ME/CFS Autoantikörper gegen beta-1 und beta-2-adrenerge und muskarinerge Rezeptoren entwickeln. Diese Rezeptoren sind wichtig für die Signalübertragung zwischen Nerven des vegetativen Nervensystems ("fight or flight or freeze") und Muskeln im Körper.
Autoantikörper gegen diese Rezeptoren können zu einer Reihe von Symptomen führen, wie beispielsweise Schmerzen, Erschöpfung, Muskel- und Gelenksteifigkeit sowie kognitive Beeinträchtigungen, welche mit Long-COVID, sowie ME/CFS in Verbindung gebracht werden.
Die genauen Ursachen und Auslöser von Long COVID und autoimmunbedingten Komplikationen sind jedoch noch nicht vollständig verstanden. Wissenschaftler arbeiten weiterhin daran, die zugrunde liegenden Mechanismen von Long-COVID und autoimmunbedingten Erkrankungen besser zu verstehen, um mögliche Therapien und Behandlungsoptionen zu entwickeln.
6. Dysautonomien
Das autonome Nervensystem ist für die Kontrolle von Körperfunktionen wie Herzfrequenz, Atmung und Verdauung verantwortlich und reagiert auf Stress oder körperliche Anstrengung. Dysautonomien sind eine Gruppe von Erkrankungen, bei denen das autonome Nervensystem aus verschiedenen Gründen beeinträchtigt ist. Es gibt Hinweise darauf, dass einige PatientInnen mit Long-COVID an Dysautonomien leiden können, die teilweise durch eine "small-fibre-Neuropathie" (SFN), eine Neuroinflammation oder eine Sauerstoffunterversorgung ausgelöst werden können. Dies kann zu einer Vielzahl von Symptomen führen, darunter Schwindel, Benommenheit, Herzrasen ("POTS"), Bluthochdruck oder niedriger Blutdruck, Schlafstörungen und Magen-Darm-Probleme. Eine genaue Diagnose und Behandlung von Dysautonomien können bei der Linderung der Symptome von Long-COVID helfen.
POTS steht für Postural Orthostatic Tachycardia-Syndrome und umschreibt die Unfähigkeit des autonomen Nervensystems den Kreislauf in aufrechter Körperposition stabil zu halten. PatientInnen berichten daher von Herzrasen während des Stehens. Dieses Syndrom trifft oft nach viralen Erkrankungen und häufig nach COVID-19 auf. Die Symptome von POTS können weiterhin Schwindel, Ohnmachtsanfälle, Übelkeit und Müdigkeit umfassen. Die Behandlung von POTS umfasst in der Regel eine Kombination aus Medikamenten, körperlicher Therapie und Lebensstiländerungen.
7. Dysfunktionelle Atemmuster
Dysfunktionelle Atemmuster, also mangelhaft ausgeführte Atemmuster, sind bei Long COVID-PatientInnen mit persistierender Atemnot häufig zu beobachten. Eine häufige Form von pathologischen Atemmustern bei Long COVID-PatientInnen ist das sogenannte "rapid shallow breathing" oder auch "Tachypnoe" oder Hyperventilation. Hierbei handelt es sich um eine schnelle, flache Atmung, die nicht ausreichend Sauerstoff in den Körper bringt. Dies kann zu einer Zunahme von Müdigkeit und Kurzatmigkeit führen.
Ein weiteres Atemmuster, das bei Long COVID-PatientInnen beobachtet wird, ist eine "Cheyne-Stokes-Atmung". Dabei handelt es sich um eine periodische Atmung, die von einer Unterbrechung der Atmung gefolgt wird. Dieses Atemmuster kann zu einer Beeinträchtigung der Sauerstoffversorgung des Körpers führen und kann auch mit einer Zunahme von Müdigkeit und Schwindelgefühlen einhergehen.
Diese Atemmuster können eine chronische Hyperventilation induzieren und sich bereits bei milden Verläufen von COVID-19 etablieren. Die PatienInnen selbst merken überhaupt nicht, dass sich ihre Atmung verändert hat. Eine frühzeitige Diagnose und Behandlung von dysfunktionalen Atemmustern mit Atemtherapie kann dazu beitragen, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.
8. Psychische Effekte
Die psychischen Auswirkungen von COVID-19 können ebenfalls zur Entstehung von Long-COVID beitragen. Angstzustände, Depressionen und PTBS können die Genesung erschweren und zu anhaltenden Symptomen führen.
Es ist verständlich, dass Long-COVID-PatientInnen angesichts der unvorhersehbaren Natur der Erkrankung und der unklaren Prognose besorgt sind. Darüber hinaus können die physischen Symptome von Long-COVID zu psychischen Belastungen führen, da sie das allgemeine Wohlbefinden beeinträchtigen können. Es ist wichtig, dass Long-COVID-PatientInnen eine umfassende Betreuung erhalten, die auch die psychische Gesundheit berücksichtigt. Eine gezielte Behandlung von Angstzuständen, Depressionen und PTBS kann dazu beitragen, das allgemeine Wohlbefinden der PatientInnen zu verbessern und ihre Genesung zu unterstützen.
Fazit:
Es ist wichtig zu beachten, dass die Pathogenese von Long-COVID komplex und multifaktoriell ist. Eine umfassende Diagnose und Behandlung erfordert eine sorgfältige Bewertung der individuellen Symptome und möglichen Ursachen. Eine integrative und interdisziplinäre Therapie, die sowohl medizinische als auch alternative Ansätze kombiniert, kann bei der Behandlung von Long-COVID von großem Nutzen sein.
A Cytokine-based model for the pathophysiology of Long COVID symptoms Russell N. Low, MD1 , Ryan J. Low, PhD2 , Athena Akrami, PhD2
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